Therapie als Chance

Ein Kooperationsprojekt des „Haus des Jugendrechts“, Stuttgart, mit der Fachstelle „Tätertherapie“ des Instituts Systegra, Stuttgart

Institutioneller Rahmen

Das Haus des Jugendrechts wurde im Juni 1999 ins Leben gerufen. Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Amtsgericht gehen seither gemeinsam neue Wege im Umgang mit straffälligen Jugendlichen. Nunmehr gibt es einheitliche Zuständigkeiten, feste Ansprechpartner, kurze Wege und ein abgestimmtes Handeln. Die Straftaten der  Jugendlichen werden im Kontext ihrer Lebensgeschichte betrachtet; die Maßnahmen aller Beteiligten dementsprechend abgestimmt. So können die Hilfen individuell  auf die momentane Lebenssituation der Jugendlichen zuschnitten werden. Das oberste Ziel des Hauses des Jugendrechts ist, straffällige Jugendliche in ihrer sozialen Entwicklung zu fördern und sie vor weiterem Fehlverhalten zu bewahren.

Das Institut für systemisch-integrative Beratung und Psychotherapie, Systegra, wurde im Jahr 2000 gegründet und ist eine private ambulante Facheinrichtung im Kontext Gewalt. Supervision und Coaching, pädagogische Diagnostik und gutachtliche Stellungnahmen, Fort- und Weiterbildung sowie Fachberatung ergänzen das psychotherapeutische Angebot. 

Als Fachstelle im Kontext sexueller Gewalt schließt Systegra eine Lücke in der psychosozialen Versorgung des Großraums Stuttgart und der angrenzenden und nahegelegenen Landkreise.

Das Konzept des Instituts Systegra berücksichtigt die soziokulturellen und politischen Gegebenheiten in Deutschland und eröffnet damit die Möglichkeit, unter systemischen Gesichtspunkten interaktiv und interdisziplinär den Prozess der praktischen Erprobung und Verankerung eines politisch gewünschten, von der Öffentlichkeit geforderten und von Fachkollegen erwarteten Beratungs- und Therapieangebotes für Gewalttäter und Straftäter zu gewährleisten.

Vernetzung, Kooperation und Interaktion mit Personen und Institutionen, die mit sexueller Devianz, sexueller Delinquenz und gewalttätigen Übergriffen Erwachsener, Kinder und Jugendlicher befasst sind, bestimmen den Kontext des Therapie- und Beratungsangebotes maßgeblich mit. Auch wenn es sich bei Systegra nicht um eine behördliche Institution handelt, so vertreten die Therapeuten auch die Schutz- und Ordnungsinteressen der Gesellschaft und haben sich selbst neben dem Hilfs- und Veränderungsauftrag einen Kontrollauftrag gegeben.

Tätertherapie in diesem Sinne bedeutet, justiznah und transparent zu arbeiten. Die zuweisenden Institutionen und Personen – Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Justizvollzugsanstalten, Bewährungshilfe, Polizei, Opferschutzorganisationen, Jugendämter und Jugendhilfeeinrichtungen – sind zudem fiktiv als signifikante Dritte im therapeutischen Prozess präsent.

Das Therapie- und Beratungsangebot im Rahmen der Tätertherapie des Instituts Systegra geht weit über die klassischen Methoden und Möglichkeiten der Behandlung von psychisch gestörten Menschen hinaus. Die kooperative Mitgestaltung des sozialen Empfangsraumes Strafentlassener sind ebenso wie lebenspraktische Hilfen, soziale Trainingskurse, Gruppentherapie und die Einbindung wichtiger Bezugspersonen in die Therapie und in die Beratung, integrale Bestandteile des Konzeptes.

Systegra integriert Modelle und Konzepte der Gewalttäter- und Sexualstraftäterbehandlung, die bereits im In- und Ausland erprobt und wissenschaftlich evaluiert wurden und erfolgreich angewendet werden. Einem Streit um die bessere psychotherapeutische Methode wird ein integratives Konzept entgegengesetzt, das deliktorientiert und fallspezifisch kognitive, verhaltenstherapeutische, psychodynamische und humanistische Verfahren und Methoden unter systemischen Gesichtspunkten vereint.

 

Psychotherapie mit straffälligen Jugendlichen

Niemand wird kriminell geboren. Kinder- und Jugendkriminalität ist Ausdruck gesellschaftlicher Realität und multifaktoriell bedingt.

Kinder aus sozial zerrütten Familien beispielsweise werden weitaus häufiger straffällig als Kinder aus gesicherten Verhältnissen. Kinder, die selbst Opfer von Gewalt wurden, greifen doppelt so oft zur Gewalt, wie Kinder, die in gewaltfreien Räumen aufwuchsen. Jugendliche, die befürchten, ihre kulturelle Identität zu verlieren, sind anfällig für Propaganda extremistischer Gruppen. Kinder und Jugendliche, die über soziale Medien im virtuellen Raum interagieren und Herabwürdigungen und Mobbing ausgesetzt sind, greifen in ihrer Einsamkeit manchmal zu ebensolchen Mitteln. Und wenn beispielsweise bereits 9Jährige Hardcorepornos im Internet anschauen und die Eltern mit ihnen nie über Sexualität gesprochen haben, dann ist eine Form sexueller Verwahrlosung als Folge nicht verwunderlich. Insbesondere Cyberkriminalität, die sich über Sexting, Grooming bis hin zur Verbreitung von Kinderpornographie durch Kinder und Jugendliche ausbreitet, stellt uns in Erziehung und Psychotherapie vor neue Aufgaben.

Tätertherapie setzt an dem, was die meisten gewalttätigen oder sexuell übergriffigen Jugendlichen gemeinsam haben, an den schweren Verletzungen der Grundbedürfnisse nach Lust und Unlust, Bindung, Orientierung und Kontrolle und dem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz. (Klaus Grawe 2004).

Streit und Trennung der Eltern, Verlust der Familie durch Krieg und Flucht wirken sich auf die Bindungsfähigkeit aus. Emotionaler Missbrauch oder schulische Misserfolgserlebnisse mindern das Selbstwertgefühl. Psychische und physische Vernachlässigung, sexuelle Übergriffe und inkonsistentes Erziehungsverhalten beeinträchtigen Orientierung und Kontrolle. Gewalt in der Erziehung oder zu frühe Verantwortungsübernahme in der Familie beeinträchtigen das Gleichgewicht von Lust/Freude und Unlust/Frustration.

Zahlreiche jugendliche Gewaltstraftäter und Sexualstraftäter waren in ihrer Kindheit nicht nur einer, sondern mehrerer der genannten bedürfnisverletzenden Erfahrungen ausgesetzt.

Spätestens in der Pubertät entwickeln viele Jugendliche dysfunktionale Bewältigungsstrategien, um weitere Bedürfnisverletzungen und das damit verbundene Erleben negativer Emotionen wie Angst, Scham und Schuld zu vermeiden.

Die psychotherapeutische Behandlung dieser Jugendlichen unterstützt sie, die Angst vor Bindungs- und Kontrollverlust zu bewältigen. Über Therapeutenbindung und somit entstehende „emotionale Resonanz“ können im jugendlichen Klienten Regulationsprozesse in Gang kommen. Die zugrunde liegenden Emotionen sind Ausgangspunkt und Ziel jeglicher Veränderung. Während der Therapiesitzung werden „Emotionsstärke“ und „Emotionsqualität“ ständig reguliert, bis die „Mentalisierung“ unter Einbeziehung somatischer Sensationen möglich wird. Ziel ist eine „Transformation“ dysfunktionaler Denk- und Verhaltensmuster.

Zudem werden Strategien erarbeitet, das eigene Selbstwirksamkeitserleben im Alltag zu spüren und zu erhöhen, Frustrationen auszuhalten und Disziplin zu entwickeln.

 

Zielgruppe und Delikte

Die Klientel des Kooperationsprojektes sind straffällig gewordene Jugendliche im Alter zwischen 14 und 21 Jahren. Bei ihnen wird ein besonderer Therapiebedarf im Justizrahmen und durch die Einlassung beteiligter Institutionen wie Jugendamt, Jugendhilfeeinrichtungen, Bewährungshilfe festgestellt. Möglicherweise sind vorangegangene Maßnahmen wie beispielsweise ein Anti-Aggressivitäts-Training erfolglos hinsichtlich einer erneuten Straftat geblieben. Häufig gab es Beziehungsabbrüche durch Wechsel aus Familie in Jugendhilfeeinrichtungen und Pflegefamilien. Und immer, wenn von schweren Gewalttaten Jugendlicher die Rede ist, fällt der Blick auf die sogenannten „Migrantenjugendlichen“, die eine deutlich höhere Delinquenzbelastung aufweisen. Dies muss auf dem Hintergrund der jeweiligen Biographien betrachtet werden, die vielfach prekäre Lebenslagen und Ausgrenzungserfahrungen aufweisen.

Die Deliktspanne bei jugendlichen SexualstraftäterInnen reicht von schwerer körperlicher Gewalt, über Erpressung bis zu sexuellen Übergriffen, Cybergrooming, Sexting und Sextortion. Der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornographie nehmen einen immer größeren Raum ein. Mehr und mehr SchülerInnen teilen in sozialen Netzwerken und Messengerdienste wie WhatsApp oder Snapchat derartige Bilder und Videos. Die Zentralstelle für polizeiliche Prävention des Landeskriminalamtes Sachsen weist in ihrer Kriminalstatistik etwa ein Drittel der ermittelten Tatverdächtigen bei der Verbreitung, dem Erwerb, dem Besitz und der Herstellung von Kinderpornographie über das Tatmittel Internet als jünger als 18 Jahre aus. Und das sei nur das Hellfeld, betont eine Sprecherin. Die tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen in diesem Deliktbereich hätten von 2019 bis 2020 um 45 % zugenommen, und der Trend scheine sich fortzusetzen. (Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus)

 

Prozedere

Mit der Möglichkeit im Justizkontext, straffälligen Jugendlichen statt oder in Verbindung mit einer Bestrafung eine psychotherapeutischen Maßnahme aufzuerlegen, wird angeknüpft an die „Visionen“ des Hauses des Jugendrechts und eine „Realität“ geschaffen.

Den Jugendlichen sollte unserer Meinung nach eine festgelegte Anzahl von Therapiesitzung auferlegt werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Therapiemotivation und Verlässlichkeit zunehmen, wenn der Rahmen klar gestaltet ist. Die Anzahl der Therapiegespräche sollte zwischen 30 und 50 liegen mit der Option einer Verlängerung oder auch Verkürzung. Die Sitzungen finden wöchentlich, in begründeten Ausnahmefällen zweimal wöchentlich statt. Schweigepflichtsentbindungen ermöglichen  den Austausch mit allen beteiligten Institutionen und Personen.

Die Abrechnung erfolgt über die Staatskasse. Die Rechnungen werden monatlich gestellt.

Anne Lipps


Im Rahmen meiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit der Aus- und Weiterbildung als Psychotherapeutin von sexueller Devianz und sexueller Delinquenz und als Traumatherapeutin/Hypnotherapeutin und Leiterin der Fachstelle Tätertherapie des Instituts Systegra freue ich mich auf die neue Aufgabe und Herausforderung.

Anne Lipps